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DIE REPORTAGE!

Fünf Wochen zu Fuß

quer durch das Land

Das Buch

Panorama-Lesung

[Wander-Logbuch]

Wander-Logbuch

(entstanden unterwegs vom 8. Juli bis zum 14. August 2011)

Freitag, der 8. Juli: Berlin

... noch, NOCH in Berlin, aber im Kopf schon in der Landschaft.
Irgendwo im Hintergrund werden noch letzte Geschäfte geregelt, läuft eine Weltmeisterschaft, sprechen wir abstrakt von Plänen und Pflichten d_a_n_a_c_h, aber das ist so ungreifbar und fern wie dieses 'davor', das wir hier noch aushalten müssen.
Erstaunt blicke ich auf meine Schuhe ... ach so, ich bin ja noch beim Auftraggeber, in der Stadt.
Es ist undenkbar, in ein solches Unternehmen kurz entschlossen hineinzuspringen, Freitag entschieden, Sonntag gestartet. Das wäre genau umgekehrt, wir wären noch viele Tage der Wanderung in Berlin und in unseren Geschäften.
Der Kalender leistet noch etwas Widerstand, meinetwegen, aber es muß jetzt doch losgehen, also: übermorgen! (Lo)

Sonntag, der 10. Juli: Im Zug, irgendwo hinter Wolfsburg

Endlich sind wir unterwegs, lassen uns vom ICE nach Essen tragen. Der Zug rast, in uns beginnt sich Ruhe auszubreiten. Die vor uns liegenden Wochen sind noch unschuldig weiße Blätter. Wir wissen, dass manches, vieles, vielleicht das allermeiste ganz anders werden wird, als wir es uns in der Phantasie zurechtgelegt haben. Aber genau deshalb sind wir aufgebrochen. 

Mittwoch, der 13. Juli: Gasthof Becker in Sürenhagen, hinter der A45

Die Republik ist längsgefaltet - und wir gehen quer. Das heißt: Wir lassen keinen Bergrücken aus und navigieren mühsam, da alle "normalen" Wege auch eher längs als quer gehen.
Nach zwei Tagen mit einer Mischung von Gewerbegebiet-Trekking und ländlicher Idylle sind wir heute im Sauerland angekommen. Wären wir nicht 100 Meter hinter der Autobahn und unter einer dichten Güllehaube, müsste man unser Quartier idyllisch nennen.
Mit unseren Rucksäcken fallen wir auf wie bunte Hunde, das verschafft uns aber auch eine Fülle sehr netter Begegnungen. Eben hat Herr Schulte in einem Kiosk in Dahl (wer kennt Dahl?) lange mit uns nach einer Unterkunft gesucht und sich dann dieses Gasthofs erinnert - da sind wir, frischgeduscht und hungrig. 

Freitag, der 15. Juli: Jugendherberge am Sorpesee, Langscheid

Zwei Tage mit einigem Regen. Gestern eine kürzere Tour bis Altena heute eine lange. Viele Bergrücken, immer noch einer. Dass diese Nord-Süd-Faltung die West-Ost-Kontakten hindert, das ist durch unsere Beine auch unseren Köpfen klar geworden. Es wird noch NIE viele West-Ost-Kontakte gegeben haben, die Geografie gibt es einfach anders vor.
Altena hat eine eindrucksvolle Burg und könnte ein Touristenmagnet sein. In Wirklichkeit ist es ein trauriges Städtchen. In den letzten Jahren sind 4000-5000 Menschen fortgezogen, erzählte uns eine Frau. Viele Häuser stehen leer, von den anderen blättert der Putz ab. Eine Drahtfabrik reiht sich an die andere, manche modern, andere äußerlich auch eher marode. Heute, als wir wieder einmal Kilometer durch eine Mischung von Wohn- und Gewerbegebieten gingen, dachte ich an vielen Stellen: So könnte es auch im Osten aussehen.
Schon seit Essen überlege ich, mit welchen Augen ich dies alles gesehen hätte, wäre mir 1974 die Flucht geglückt. Enttäuscht, ernüchtert, dass der Unterschied doch nicht kosmisch ist? Oder hätte ich Wunderbares gesehen? Ich kann es nicht sagen. 

Sonntag, der 17. Juli: Jugendherberge Brilon

Gestern nach einem Gewaltmarsch von fast 34 Kilometern in einer alterhwürdigen Jugendherberge in Meschede eingekehrt. Der Wirt: Ein Mecklenburger in Meschede. Sagt: "Sauerländer sind stur, Mecklenburger auch. Das klappt gut hier." Ich: "Gibt es noch Unterschiede zwischen Ost und West?" "Nö, eigentlich nicht. Ich habe hier Gäste von überall... Doch! Die Monteure aus dem Osten. Die sagen: 'Das ist ja hier wie im Osten!' Da werd ich immer ganz fuchtig. Wie leben die denn zu Hause?" Die Jugendherberge erinnert an eine Alpenvereinshütte, liegt mitten im Wald und ist einfach. Aber behandelt wurden wir königlich. Lothar hatte am späten Nachmittag angerufen, um zu sagen, dass er eine Glutenunverträglichkeit hat und ob sie beim Abendessen was ohne Mehl hätten. Nein, es gäbe Gulasch und Nudeln. Lothar: "Ach, dann geben Sie mir etwas Butter und Käse, ich habe mein Brot, das geht auch so." Als wir kamen, war nur für uns Essen hergerichtet: Preiswürdiger Kartoffelsalat, Bratwurst, Tomaten- und Balttsalat, geschnitzelte Möhren, Brot, Wurst, Käse, Butter, Quarkspeise zum Nachtisch - wir waren überwältigt. 

Mittwoch, der 20. Juli, vor dem Aufstehn: Warburg/Dasenburg, bei Müllers

Nicht mehr im Sauerland, noch nicht im Weser Bergland. Dazwischen. In einer gewandelten Landschaft: Weit, die Hügelketten längst nicht mehr so hoch, dafür aber eingestreute Berge wie von Kinderhand gezeichnet, idealtypische Kegel - uralte Vulkane. Unter dem schönsten, dem Desenberg, haben wir geschlafen. Wir haben unseren Widrstand gegen die geologischen Strukturen - jedenfalls für ein paar Tage - aufgegeben und sind mit diesen Strukturen gelaufen. Am Montag auf der Waldroute von Brilon bis zum Marsberg und gestern von dort durch das Diemeltal gen Warburg. Beides lange Touren. "Der Osten ist so weit weg!", sagt ein Dormunder am Diemelsee, "bis Berlin sind 600 Kilometer..." Das prägt gerade alle unsere Begegnungen. 

Donnerstag, der 21. Juli: Oedelsheim, an der Weser, 16 Uhr

Heute Planungs- und Ausruhtag. Und das ging so: Von Immenhausen gab uns Neffe oder Cousin 2. oder 3. Grades Arne morgens eine kleine "Anschubhilfe" Richtung Reinhardswald. Dann wollten wir ca. 12 Kilometer durch den Reinhardswald nach Veckerhagen laufen und von dort mit einem Schiffchen auf der Weser bis Oedelshause fahren und faul die Landschaft genießen. Bis Veckerhagen ging der Plan auf, aber von Weserschiffen keine Spur. (Dabei hatten uns seit der Sorpe jeden Tag Menschen erzählt, dass alles Wasser aus Sorpe und Diemel für die Schifffahrt in die Weser geleitet würde.) Also weiter zu Fuß durch das prächtige Wesertal. Dann ein kleiner Lift per Anhalter (das 1. Auto hielt und wurde gefahren von der Tochter des Holzschuhbauern mit der 100-kg-Plastikkuh, der für faire Milchpreise durchs Land zieht - wir sind auch für faire Preise!!!), weiter zu Fuß zur Fähre über die Weser nach Odelsheim. Fähre fährt nur am Wochenende. Oedelsheim zum Greifen nah. Notgedrungen weiter zu Fuß einige Kilometerchen bis Gieselwerder zur nächsten Brücke. An der Brücke umgeschaut, den Daumen gehoben, das 1. Auto hielt ("Na, sie sind ja wohl hoffentlich vertrauenswürdig.") und brachte uns auf der anderen Weserseite nach Odelsheim. Insgesamt sind wir doch 22 oder 23 Kilometer gelaufen und haben dennoch durch unser Glück, die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft wildfremder Menschen einen richtigen Ferientag. Und nicht genug, haben Cousin Thomas und Frau Antje uns nicht nur auf das Freundlichste die letzte Nacht in Immenhausen beherbergt, sondern auch gleich noch ein Hotelzimmer hier in Oedelsheim spendiert. Einfach Loswandern? Wir raten zu! 

Samstag, der 23. Juli: Jugendherberge Northeim, 17 Uhr

Unterwegs am Gartenzaun ein längeres Gespräch mit einer reizenden 83jährigen Frau, die ihre Blumenbeete hackte: "Hat sich durch den Mauerfall für Sie eigentlich irgendetwas geändert?" "Nein, eigentlich nicht. Obwohl, Friedland ist ja nur 50 Kilometer entfernt... Nein. - Doch! Der viele Verkehr auf der Autobahn, das ist ganz schrecklich! Ich fahre da gar nicht mehr, weil das so doll geworden ist." Wir nähern uns dem Harz, sehen seit gestern den Brocken in der Ferne und sind doch tief im Westen. Nicht nur, weil uns in den Gesprächen auf dem Weg nur Vergleichbares wie oben begegnet, nein, auch wir sind ganz hier, mit dem Weg, der Landschaft, dem Wandern beschäftigt. Wieder gehen wir eher quer zu den geografischen Strukturen, freuen uns, wenn wir nach dem Ersteigen einer Hügelkette ins nächste Tal schauen und haben dann genug mit diesem Tal zu tun. Der Osten ist weit. 

Dienstag, der 26. Juli: Brocken, Brockenhotel, 16 Uhr

Wir sind im wahrsten Sinne des auf dem Höhepunkt unserer Wanderung: dem BROCKEN. Die letzten beiden Tage drohte er uns dunkel mit seiner schwarzen Fichtenwand, gestern regnte es stundenlang. Doch heute empfing er uns mild und freundlich, es ist trocken, wir schauen Tagereisen zurück und voraus. Gestern und heute sind wir ab Osterode wieder einmal mit der Struktur gegangen, auf dem Harzer Hexenstieg. Ein wunderbar komponierter und äußerst unterhaltsamer Weg, stark geprägt von jahrhundertealten Relikten des Bergbaus, dem "Oberharzer Wasserregal".
Auf dem Brocken sind heute, an wahrscheinlich dem ersten trockenen Tag seit langem, "Herden" von Menschen, wie ein 7jähriger unterwegs feststellte. Was uns nicht im Geringsten stört, weil wir die Begeisterung 1. nachvollziehen können und 2. den Brocken in wenigen Stunden fast für uns haben werden. Das Brockenhotel hat uns eine Nacht hier oben gesponsert, was für uns ein ganz besonderes Geschenk ist!
Beim Aufstieg über den Goetheweg liefen wir immer mal eine Zeit mit einer Familie und plauderten, plötzlich standen wir an einer "Panzerstraße". "Sind wir denn schon im Osten?" "Ja, sicher schon lange." Ich wollte den Übergang besonders würdigen - und habe es nicht gemerkt... In Osterode und Altenau, also im unmittelbaren ehemaligen Grenzgebiet, haben wir erstmals auch Menschen kritisch über die Vernachlässigung der Region zugunsten des Ostens reden hören. Die Freude überwiegt jedoch bei weitem! 

Freitag, der 29. Juli: Oschersleben, Pension Da Gigi, 20 Uhr

Wir haben drei so vollgepackte Tage hinter uns, dass wir kaum zum Sortieren kommen: eine einsame Nacht auf dem Brocken, die Bekanntschaft mit Brocken-Benno und einigen anderen aus dem "Club der Hunderter" das sind die, die schon mehr als einhundert mal auf dem Brocken waren (unsere waren z.T. schon mehrer tausend Male oben!), zwei lange Ackermärsche durchs Harzer Vorland, inklusive intensiver Begegnungen mit einem Pflaumenpflücker und Obstbrandspezialisten ("Früher waren es ideologische Verbrecher, heute sind es Kapitalverbrecher") und einem alten Tierarzt und dessen Frau, die wieder den alten Hof der Familie bewirtschaften. Wernigerode ist ein Schmuckstück, Halberstadt schien mir die verwundetste Stadt zu sein, die ich unterwegs gesehen habe und Oschersleben ist ein kleines Städtchen, in dem es sich offenbar gut leben lässt. (Unser Gastwirt Gigi haut uns mit seinem Zimmerpreis kräftig übers Ohr.) Das Wandern durch die endlosen Weizenfelder ist vollkommen anderer Art als unser bisheriges Gehen, nichts ist mehr kurzweilig, meditatives Gleichmaß ist angesagt. Wir freunden uns mit Güllefahrern an und beobachten unglaublichen Erntemaschinen bei ihrer Präzisionsarbeit. 

Samstag, der 30. Juli: Tangerhütte, 20 Uhr

Tag der Sünden: Wir wollten ein Schiff auf der Elbe. Es gibt aber kein Schiff auf der Elbe. Bei diesem Novemberwetter schon gar nicht. So fuhren wir heute zweimal 20 Minuten Zug, einmal rein nach Magdeburg und einmal wieder raus. Asche auf unsere Häupter. Dann liefen wir mit dem Wind um die Wette und gegen ihn noch unsere Kilometer tapfer bis Tangerhütte.
Gigis Holunderblütengelee wirkte heute früh besänftigend, seine weibliche, einheimische Vertretung am Morgen zeigte sich außerdem freundlich kulant. Sie beschrieb die Lage in Oschersleben als schwierig: "Es gibt wenig Arbeit, viele pendeln nach Magdeburg. Die meisten haben sich aber auf niedrigem Niveau eingerichtet. Wenn wir einen Zettel aushängen, dass wir eine Aushilfe suchen, dann meldet sich niemand. Was soll man da machen? Es liegt an jedem selbst. Mein Vater zum Beispiel ist nach Königsberg gezogen, dort lebt er ganz wunderbar. Er hat eine Frau von dort geheiratet und hat hier alles aufgelöst." 

Donnerstag, der 4.August, Kyritz 8 Uhr

Wir sind einige Tage wegen technischer Schwierigkeiten offline gewesen, irgendwie sinnbildlich für unser Wandern durch Altmark und Prignitz.
Ein alter Leverkusner an der Elbe: "Wenn dir ein Fliesenleger sagt, er kommt Mittwoch, dann musst du fragen, in welcher Woche und welchem Monat, total unzuverlässig... Ich kann mit den Ossis nicht und die nicht mit mir. Mein Sohn hat gesagt: 'Komm doch wieder zu uns, Vadder.' Ich habe eine Annonce gemacht, wollte verkaufen, da war auch einer, der es zu meinem Preis sofort haben wollte. Dann kam das Hochwasser: Vor dem Haus die Gänse und Schwäne und mittendrin der Biber - ich habe nicht verkauft. Aber es ist ein Bach! In der Kneipe, in die ich gehe, sag ich immer: 'Wenn ich eine Stunde am Rhein sitze und Schiffe zähle - so viel kommen hier auf euerem Bach nicht in drei Jahren vorbei!'"
Eine Eselzüchterin in der Prignitz: „Die Leute sitzen alle und warten, dass etwas kommt. Sie machen nichts. Als ich mit den Eseln angefangen habe, hat das ganze Dorf gelacht. Meine Schwiegermutter hat geweint, weil sie sich so geschämt hat. Jetzt haben sich alle dran gewöhnt, ich habe mir das nicht ausreden lassen. Aber es ist manchmal zum Verrücktwerden. Wir haben uns mit den Tourismusverantwortlichen zusammengesetzt, die waren überhaupt nicht interessiert. Eigentlich sollte etwas Gemeinsames zwischen den Dosse-Gemeinden entstehen, aber die haben sich alle verstritten. Jetzt tut ich mich mit Leuten zusammen, die ähnlich ticken wie ich und wir machen etwas ohne Behörden. 'Förderanträge' – wenn ich das schon höre! Ich versuche selbst, für meine Eseltouren Gastgeber zu finden. Menschen unterzubringen, das geht gerade noch, aber Esel? Die sind total genügsam und ich würde auch das Futter hinfahren. Aber die Leute sagen: Die trampeln bestimmt den Rasen kaputt. Wo sind wir denn? Wir sind auf dem Dorf! Da hat man doch keinen englischen Rasen, den ein Esel kaputttrampeln könnte! Das ist denen alles zu viel. Man könnte manchmal platzen, dass sich nichts bewegt.“ 

Freitag, der 5.August: Landhotel Berlinchen/ Wittstock 21 Uhr

Wanderung über die Dörfer bei leichtem Regen. Ein nettes Gespräch am Gartenzaun über den Süßigkeitskonsum der Enkel vor dem Mittagessen ("Da muss man schon mal ein bisschen streng sein") und all die schönen großen Kirchen in den Dörfern, auch hier in Christdorf: "Is wohl von dem Stüler, die einzige hier, geht ja bloß kaum noch einer hin..." Wittstock ist eine lebendige und interessante Stadt, die unbedingt einen längeren Besuch wert ist. Die engagierte Dame in der Touristeninformation hält uns gleich einen Vortrag zum 30jährigen Krieg, der hier gewütet hat und beredet uns, unbedingt durch die Wittstocker Heide nach Berlinchen zu gehen. Wollen wir. Unterwegs bekommen wir bei einer Beerdigunggesellschaft einen Kaffee ("Gib se doch nen Kaffee!") und dann verlaufen wir uns leider das erste Mal gründlich und landen statt in der Heide in den Sümpfen, am Ende doch hier im Hotel, das überquillt von Kindern (Eltern und Pferden) und dessen rheinische Chefin uns für eine Nacht eingeladen hat. Wie sie hier hinkommt, müssen wir jetzt beim Lagerfeuer noch rauskriegen. Der Tag heute, der Feuerwehrmann gestern, der uns vor dem Gülleregen gerettet hat, das Paar im Kiosk am Königsberger See, das mit Engelsgeduld Kinderscharen mit Eis und Pommes versorgte und unsere Königsberger Wirtin, die sich nicht durch Pfifferlinge bestechen ließ und uns doch aufnahm, haben uns aufgeheitert. 

Montag, der 8.August: Hotel Schlossgarten, Neustrelitz 9 Uhr

Wieder sind wir mit Glück dem dicksten Regen entkommen. Seit Samstag spazieren wir durch die liebliche, leicht gewellte Landschaft der Mecklenburger Seenplatte (ein See ist immer zu sehen) und sind damit in deutlich touristischeres Gebiet gelangt. Wälder wechseln ab mit Heide, Feldern, Wiesen; Kühe weiden in trauter Eintracht mit Störchen, Kraniche rufen und plötzlich galoppiert auch eine Herde Lamas (!) vor unseren Augen über eine Wiese. Wir treffen das erste Mal zwei Rucksacktouristinnen, die als Pilgerinnen unterwegs sind. Auf Nachfrage sind sie dann doch eher Wanderinnen, die die Pilgerstrucktur nutzen. (Liebe Protestanten Mecklenburgs, Sachsen-Anhalts und Brandenburgs: Warum fahrt ihr so auf das Pilgern ab, dass niemand mehr mit Rucksack durch die Gegend laufen kann, ohne gleich als Pilger eingeordnet zu werden? Und was würde Luther dazu sagen?) Die beiden Frauen (+ Hund) sind jedenfalls gut gestimmt und erzählen uns von den ersten Tagen ihrer Tour, die in Friedland begann. "Da ist kein Mensch, man ist ganz alleine. Hier ist es wenigstens ein bisschen touristisch und man bekommt mal einen Kaffee."
Später unterhalten wir uns mit einem alten Paar, das vor einem schönen Haus sitzt und sich über einen Plausch freut. Sie sagt (leicht vorwurfsvoll): "Ihr müsst mal im Sommer herkommen, dann ist es schön hier!"
In Neustrelitz sponsert uns das Hotel Schlossgarten eine Nacht und wir werden sehr freundlich empfangen. Der junge Mitarbeiter an der Rezeption ist aus Bonn hergezogen, "wegen der Liebe. Es gefällt mir sehr gut hier. Es gibt eigentlich keine Unterschiede mehr. Natürlich ist es arm, im Westen würde ich ungefähr dreimal so viel verdienen wie hier. Aber Geld ist nicht alles. Man muss Prioritäten setzen. Ich finde auch, man sollte nicht mehr so einen Unterschied zwischen Ost und West machen. Die Wende ist so lange her, irgendwann muss doch auch mal Schluss sein. Natürlich kommen manchmal 'Wessis', die total überheblich, manchmal sogar richtig frech sind. Dann denke ich, dass sie ja nicht herkommen müssen, wenn es ihnen hier nicht gefällt."
Wir sitzen abends bei blendendem Sonnenschein am Zierker See, essen Fisch, bummeln dann durch die barocke Residenzstadt zurück zu unserm Hotel und genießen den Hotelgarten, der ein regelrechter Paradiesgarten ist: Eingefriedet von einer alten Mauer, mit großen Bäumen, inklusive einer 500jährigen Eiche. Hier lässt es sich aushalten! 

Mittwoch, der 10.August: Zippelow, Ferienwohnung, 8 Uhr

Nach einer "Pilgertour"(!) zum Sterbeort Königin Luises in Hohen-Zieritz, sind wir in der wunderbaren kuppigen Endmoräne Mecklenburg-Strelitz' in einer dieser Schönheit entsprechenden Ferienwohnung gelandet. Begegnungen mit interessanten Menschen: Eine alte Dame, hochgewachsen, windzerzaust, mit Workingstöcken befragt uns eingehend nach unserem Woher und Wohin. Zur Zeit nach der wende sagt sie: "Der Übergang war grausam." Natürlich geht es um den Verlust von Arbeit. Unsere Gastgeberin sagt: "Es geht wieder aufwärts, mehr Kinder, mehr arbeitende Eltern. Aber die Arbeitslosigkeit ist noch bei 12-13%. Viele davon sind in der 2. Generation arbeitslos, die kennen nichts anderes und können nichts anderes mehr, weil sie es nicht gelernt haben. mit dieser Gruppe wird es schwierig." Eine junge Journalistin sagt: "Wir müssen noch 10 Jahre die Füße still halten, dann sind die 50jährigen, die jetzt so hängen, aus dem arbeitsprozess raus, dann wird noch einmal etwas ganz anders. Aber ob ich so lange warten kann? Ich möchte gern hierbleiben, meine Freunde möchten das auch, aber die Bedingungen sind sehr hart."
Mit jedem Kilometer Richtung Ziel spüre ich eine wachsende Spannung, auch Unruhe: Am 12. werden wir in Iven sein, dem Ort, in dem ich die ersten 9 Jahre gelebt habe und der in mir entsprechend mythisch aufgeladen ist. Was werde ich wieder-, was neu finden? Je näher wir Anklam kommen, desto abfälliger wird über diese Stadt geredet (die Zerstörung, die Hoffnungslosigkeit, die Rechten). Das kann ich nachvollziehen, aber es hat rein gar nichts mit "meinem" Anklam zu tun. 

Donnerstag, der 11.August: Altentreptow, Pension Central, 19.30 Uhr

M-V ist im Wahlkampf. In Neustrelitz und Neubrandenburg sahen wir kaum NPD-Wahlplakate, nur an den Rändern der Stadt und dort so hoch, dass sie kaum "gepflückt" werden konnten - oder wir sahen "gepflügte" auf dem Kopf liegen. Heute unterwegs in Woggersin NPD-Plakate (Wir bleiben hier. Wir packen an. Unsere Heimat, unser Aufrtrag. We daun wat. Sei kein Frosch, wähle deutsch!), daneben freche "Storch Heinar"-Plakate: "Storchenkraft statt NPD". In Altentreptow sind die NPD-Plakate übermalt und man sieht viele Plakate der Grünen.
Neben dem Dauerthema Arbeitslosigkeit (das zu erwarten war) begegnet uns seit vielen Tagen ein gänzlich Unerwartetes: Der 30jährige Krieg. Er hat in dieser Region so gewütet, dass die Folgen immer noch wahrzunehmen sind. Dazu die Geschichte der Leibeigenschaft in den ostelbischen Gebieten, Jahrunderte der Armut, Unfreiheit, Abhängigkeit und Knechtung. Die Zerstörungen durch den Krieg und nach dem Krieg (Neubrandenburg wurde erst nach dme Krieg von russischen Soldaten niedergebrand) - wie lange braucht so ein Land, um wirklich "zu blühen"? 

Freitag, der 12.August: Iven, bei Elfriede Levke, 18 Uhr

Von Altentreptow über abgelegene Dörfer durch Regen und Schlamm nach Iven, ins Dorf meiner Kindheit. Dort in allen Ecken herumgestöbert, vieles wiedererkannt und "Tante Elfriede" und "Tante Waltraud" getroffen. Die erste weise Frau meines Lebens, Ingelore Witte, 2 Tage älter als ich (aber mit sehr viel mehr Verstand gesegnet) lebt leider nicht mehr hier. Aber ich habe die Stelle auf Anhieb gefunden, an der sie mir sagte: "Ach lass man, Schacht vergeht, Arsch besteht." Dann trennten wir uns, gingen nach Hause und nahmen unsere (gerechte) Strafe für irgend ein Vergehen tapfer entgegen.
Die Dörfer sehen zum großen Teil sehr gepflegt aus, NPD-Plakate rufen auf, rechts zu wählen, konsequent deutsch zu sein (Ausländer haben wir hier nirgends bemerkt) und die Bonzenparteien abzuwickeln. So weit dazu. Dann fragt uns aber ein Mnn spontan, ob er uns im Auto irgendwo mit hinnehmen kann. Das nicht, aebr wir plaudern eine Weile. "Das ist alles durch den Krieg so gekommen. Und hinterher Stalin und die Kommunisten haben es ja auch nicht besser gemacht, das muss man sagen. Früher gab es hier mehr Zusammenhalt, aber jetzt ist jeder dem andern sein Deibel und gönnt ihm nichts." 

Samstag, der 13.August: Anklam/Konsages, 16 Uhr

Angekommen! Was das bedeutet, müssen wir erst ganz langsam realisieren. Wir sind voll bis an die Haarwurzeln vom Erlebten. Anklam in der Sonne. Am Markt steht eine ganze Schar und begrüsst uns mit rotem (Flicken)-Teppich. Wir sind gerührt, erfreut, erleichtert.
Heute: Wenn es stimmt, dass pro 100 Einwohner ein Wahlplakat geklebt werden darf, dann sind wir heute durch lauter Großstädte gegangen, über die die NPD schützend ihre Hand hält, "damit wir uns auch morgen noch auf die Straße traun können". So weit das.
Eine junge Pastorin bekennt sich überzeugt und überzeugend zu dieser Stadt: "Anklam ist genauso gut (und schlecht) wie jeder andere Ort. Es kommt auf einen selbst an. Natürlich kann man auch hier abends ein Bier trinken oder schön essen gehen. Es gibt unheimlich viele Vereine, die von einem Pool sehr aktiver Leute getragen werden. Nicht alle Anklamer sind auf den Kopf gefallen! Und der wirkliche Luxus hier ist Raum: Im wörtlichen Sinn und im übertragenen. Die Natur ist weit und wunderschön und dies ist ein Ort, der seine Chance darin hat, dass etwas passieren muss. Wenn diese Gegend nicht Altersheim oder Ort für ein paar Aussteiger, Künstler und Bio-Bauern werden soll, dann muss man sich ganz neue Konzepte ausdenken. Das ist eine riesige Chance!"
Ja, so sehen wir es auch. Leute aus den "alten" Bundesländern, lauft oder fahrt mit dem Rad durch die "neuen" Bundesländer, sprecht mit den Menschen und schaut euch neugierig und in Ruhe um. Und ihr aus den "neuen" Bundesländern, fahrt nicht nur nach Österreich oder Italien, schaut euch ebenso in den "alten" Bundesländern um. Es lohnt sich.

Warum es sich so sehr lohnt, erfahrt Ihr in unserem Buch und/ oder dem Bildervortrag. Dafür brauchen wir Zeit - sicher bis Ende des Jahres. Kommentare und Nachfragen jederzeit gern an uns.
Angelika Benedicta und Lothar 

Sonntag, der 14.August, Berlin, 16 Uhr

Ein allerletzter Eintrag, angekommen zu Hause in Berlin: In Neukölln begrüßen uns an jeder zweiten Laterne DKP-Wahlplakate. Auch darüber wundern wir uns. Der Schein trügt oft genug. Jugendliche Anklamer versicherten uns gestern Abend, dass die NPD da auch kein Bein mehr auf die Erde kriegt und die Plakatschwemme ein letztes Aufbäumen ist. "Überall ist es besser geworden, auf den Straßen, in den Schulen."
Die Einheit ist kein Thema mehr, sie ist Normalität geworden. Aber die Folgen (nicht nur des Mauerbaus, sondern auch des Krieges und der Kriege und Strukturen davor) werden wir noch lange Zeit tragen müssen. Einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, wurzellos neu zu beginnen und eine schöne neue Welt zu schaffen, das ist in der DDR und anderswo entsetzlich schief gegangen. Deshalb: Erzählen wir uns gegenseitig unsere Geschichten und korrigieren immer wieder unsere Vorurteile. Deutschland ist ein schönes Land mit unglaublichen Möglichkeiten. Es gibt eine Kneipe in Anklam, in die Rechte und Linke gehen und sich irgendwie vertragen, weil der Wirt selbst ihnen sonst Prügel androht. Vielleicht eine ländlich typisch handfeste Methode, die nicht jedermann Beifall finden mag - aber doch ein Anfang, oder?