DIE REPORTAGE!
Fünf Wochen zu Fuß
quer durch das Land
[Wander-Logbuch]
(entstanden unterwegs vom 8. Juli bis zum 14. August 2011)
Freitag, der 8. Juli: Berlin
... noch, NOCH in Berlin, aber im Kopf schon in der Landschaft. Sonntag, der 10. Juli: Im Zug, irgendwo hinter Wolfsburg Endlich sind wir unterwegs, lassen uns vom ICE nach Essen tragen. Der Zug rast, in uns beginnt sich Ruhe auszubreiten. Die vor uns liegenden Wochen sind noch unschuldig weiße Blätter. Wir wissen, dass manches, vieles, vielleicht das allermeiste ganz anders werden wird, als wir es uns in der Phantasie zurechtgelegt haben. Aber genau deshalb sind wir aufgebrochen. Mittwoch, der 13. Juli: Gasthof Becker in Sürenhagen, hinter der A45
Die Republik ist längsgefaltet - und wir gehen quer. Das heißt: Wir lassen keinen Bergrücken aus und navigieren mühsam, da alle "normalen" Wege auch eher längs als quer gehen. Freitag, der 15. Juli: Jugendherberge am Sorpesee, Langscheid
Zwei Tage mit einigem Regen. Gestern eine kürzere Tour bis Altena heute eine lange. Viele Bergrücken, immer noch einer. Dass diese Nord-Süd-Faltung die West-Ost-Kontakten hindert, das ist durch unsere Beine auch unseren Köpfen klar geworden. Es wird noch NIE viele West-Ost-Kontakte gegeben haben, die Geografie gibt es einfach anders vor. Sonntag, der 17. Juli: Jugendherberge Brilon Gestern nach einem Gewaltmarsch von fast 34 Kilometern in einer alterhwürdigen Jugendherberge in Meschede eingekehrt. Der Wirt: Ein Mecklenburger in Meschede. Sagt: "Sauerländer sind stur, Mecklenburger auch. Das klappt gut hier." Ich: "Gibt es noch Unterschiede zwischen Ost und West?" "Nö, eigentlich nicht. Ich habe hier Gäste von überall... Doch! Die Monteure aus dem Osten. Die sagen: 'Das ist ja hier wie im Osten!' Da werd ich immer ganz fuchtig. Wie leben die denn zu Hause?" Die Jugendherberge erinnert an eine Alpenvereinshütte, liegt mitten im Wald und ist einfach. Aber behandelt wurden wir königlich. Lothar hatte am späten Nachmittag angerufen, um zu sagen, dass er eine Glutenunverträglichkeit hat und ob sie beim Abendessen was ohne Mehl hätten. Nein, es gäbe Gulasch und Nudeln. Lothar: "Ach, dann geben Sie mir etwas Butter und Käse, ich habe mein Brot, das geht auch so." Als wir kamen, war nur für uns Essen hergerichtet: Preiswürdiger Kartoffelsalat, Bratwurst, Tomaten- und Balttsalat, geschnitzelte Möhren, Brot, Wurst, Käse, Butter, Quarkspeise zum Nachtisch - wir waren überwältigt. Mittwoch, der 20. Juli, vor dem Aufstehn: Warburg/Dasenburg, bei Müllers Nicht mehr im Sauerland, noch nicht im Weser Bergland. Dazwischen. In einer gewandelten Landschaft: Weit, die Hügelketten längst nicht mehr so hoch, dafür aber eingestreute Berge wie von Kinderhand gezeichnet, idealtypische Kegel - uralte Vulkane. Unter dem schönsten, dem Desenberg, haben wir geschlafen. Wir haben unseren Widrstand gegen die geologischen Strukturen - jedenfalls für ein paar Tage - aufgegeben und sind mit diesen Strukturen gelaufen. Am Montag auf der Waldroute von Brilon bis zum Marsberg und gestern von dort durch das Diemeltal gen Warburg. Beides lange Touren. "Der Osten ist so weit weg!", sagt ein Dormunder am Diemelsee, "bis Berlin sind 600 Kilometer..." Das prägt gerade alle unsere Begegnungen. Donnerstag, der 21. Juli: Oedelsheim, an der Weser, 16 Uhr Heute Planungs- und Ausruhtag. Und das ging so: Von Immenhausen gab uns Neffe oder Cousin 2. oder 3. Grades Arne morgens eine kleine "Anschubhilfe" Richtung Reinhardswald. Dann wollten wir ca. 12 Kilometer durch den Reinhardswald nach Veckerhagen laufen und von dort mit einem Schiffchen auf der Weser bis Oedelshause fahren und faul die Landschaft genießen. Bis Veckerhagen ging der Plan auf, aber von Weserschiffen keine Spur. (Dabei hatten uns seit der Sorpe jeden Tag Menschen erzählt, dass alles Wasser aus Sorpe und Diemel für die Schifffahrt in die Weser geleitet würde.) Also weiter zu Fuß durch das prächtige Wesertal. Dann ein kleiner Lift per Anhalter (das 1. Auto hielt und wurde gefahren von der Tochter des Holzschuhbauern mit der 100-kg-Plastikkuh, der für faire Milchpreise durchs Land zieht - wir sind auch für faire Preise!!!), weiter zu Fuß zur Fähre über die Weser nach Odelsheim. Fähre fährt nur am Wochenende. Oedelsheim zum Greifen nah. Notgedrungen weiter zu Fuß einige Kilometerchen bis Gieselwerder zur nächsten Brücke. An der Brücke umgeschaut, den Daumen gehoben, das 1. Auto hielt ("Na, sie sind ja wohl hoffentlich vertrauenswürdig.") und brachte uns auf der anderen Weserseite nach Odelsheim. Insgesamt sind wir doch 22 oder 23 Kilometer gelaufen und haben dennoch durch unser Glück, die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft wildfremder Menschen einen richtigen Ferientag. Und nicht genug, haben Cousin Thomas und Frau Antje uns nicht nur auf das Freundlichste die letzte Nacht in Immenhausen beherbergt, sondern auch gleich noch ein Hotelzimmer hier in Oedelsheim spendiert. Einfach Loswandern? Wir raten zu! Samstag, der 23. Juli: Jugendherberge Northeim, 17 Uhr Unterwegs am Gartenzaun ein längeres Gespräch mit einer reizenden 83jährigen Frau, die ihre Blumenbeete hackte: "Hat sich durch den Mauerfall für Sie eigentlich irgendetwas geändert?" "Nein, eigentlich nicht. Obwohl, Friedland ist ja nur 50 Kilometer entfernt... Nein. - Doch! Der viele Verkehr auf der Autobahn, das ist ganz schrecklich! Ich fahre da gar nicht mehr, weil das so doll geworden ist." Wir nähern uns dem Harz, sehen seit gestern den Brocken in der Ferne und sind doch tief im Westen. Nicht nur, weil uns in den Gesprächen auf dem Weg nur Vergleichbares wie oben begegnet, nein, auch wir sind ganz hier, mit dem Weg, der Landschaft, dem Wandern beschäftigt. Wieder gehen wir eher quer zu den geografischen Strukturen, freuen uns, wenn wir nach dem Ersteigen einer Hügelkette ins nächste Tal schauen und haben dann genug mit diesem Tal zu tun. Der Osten ist weit. Dienstag, der 26. Juli: Brocken, Brockenhotel, 16 Uhr
Wir sind im wahrsten Sinne des auf dem Höhepunkt unserer Wanderung: dem BROCKEN. Die letzten beiden Tage drohte er uns dunkel mit seiner schwarzen Fichtenwand, gestern regnte es stundenlang. Doch heute empfing er uns mild und freundlich, es ist trocken, wir schauen Tagereisen zurück und voraus. Gestern und heute sind wir ab Osterode wieder einmal mit der Struktur gegangen, auf dem Harzer Hexenstieg. Ein wunderbar komponierter und äußerst unterhaltsamer Weg, stark geprägt von jahrhundertealten Relikten des Bergbaus, dem "Oberharzer Wasserregal". Freitag, der 29. Juli: Oschersleben, Pension Da Gigi, 20 Uhr Wir haben drei so vollgepackte Tage hinter uns, dass wir kaum zum Sortieren kommen: eine einsame Nacht auf dem Brocken, die Bekanntschaft mit Brocken-Benno und einigen anderen aus dem "Club der Hunderter" das sind die, die schon mehr als einhundert mal auf dem Brocken waren (unsere waren z.T. schon mehrer tausend Male oben!), zwei lange Ackermärsche durchs Harzer Vorland, inklusive intensiver Begegnungen mit einem Pflaumenpflücker und Obstbrandspezialisten ("Früher waren es ideologische Verbrecher, heute sind es Kapitalverbrecher") und einem alten Tierarzt und dessen Frau, die wieder den alten Hof der Familie bewirtschaften. Wernigerode ist ein Schmuckstück, Halberstadt schien mir die verwundetste Stadt zu sein, die ich unterwegs gesehen habe und Oschersleben ist ein kleines Städtchen, in dem es sich offenbar gut leben lässt. (Unser Gastwirt Gigi haut uns mit seinem Zimmerpreis kräftig übers Ohr.) Das Wandern durch die endlosen Weizenfelder ist vollkommen anderer Art als unser bisheriges Gehen, nichts ist mehr kurzweilig, meditatives Gleichmaß ist angesagt. Wir freunden uns mit Güllefahrern an und beobachten unglaublichen Erntemaschinen bei ihrer Präzisionsarbeit. Samstag, der 30. Juli: Tangerhütte, 20 Uhr
Tag der Sünden: Wir wollten ein Schiff auf der Elbe. Es gibt aber kein Schiff auf der Elbe. Bei diesem Novemberwetter schon gar nicht. So fuhren wir heute zweimal 20 Minuten Zug, einmal rein nach Magdeburg und einmal wieder raus. Asche auf unsere Häupter. Dann liefen wir mit dem Wind um die Wette und gegen ihn noch unsere Kilometer tapfer bis Tangerhütte. Donnerstag, der 4.August, Kyritz 8 Uhr
Wir sind einige Tage wegen technischer Schwierigkeiten offline gewesen, irgendwie sinnbildlich für unser Wandern durch Altmark und Prignitz. Freitag, der 5.August: Landhotel Berlinchen/ Wittstock 21 Uhr Wanderung über die Dörfer bei leichtem Regen. Ein nettes Gespräch am Gartenzaun über den Süßigkeitskonsum der Enkel vor dem Mittagessen ("Da muss man schon mal ein bisschen streng sein") und all die schönen großen Kirchen in den Dörfern, auch hier in Christdorf: "Is wohl von dem Stüler, die einzige hier, geht ja bloß kaum noch einer hin..." Wittstock ist eine lebendige und interessante Stadt, die unbedingt einen längeren Besuch wert ist. Die engagierte Dame in der Touristeninformation hält uns gleich einen Vortrag zum 30jährigen Krieg, der hier gewütet hat und beredet uns, unbedingt durch die Wittstocker Heide nach Berlinchen zu gehen. Wollen wir. Unterwegs bekommen wir bei einer Beerdigunggesellschaft einen Kaffee ("Gib se doch nen Kaffee!") und dann verlaufen wir uns leider das erste Mal gründlich und landen statt in der Heide in den Sümpfen, am Ende doch hier im Hotel, das überquillt von Kindern (Eltern und Pferden) und dessen rheinische Chefin uns für eine Nacht eingeladen hat. Wie sie hier hinkommt, müssen wir jetzt beim Lagerfeuer noch rauskriegen. Der Tag heute, der Feuerwehrmann gestern, der uns vor dem Gülleregen gerettet hat, das Paar im Kiosk am Königsberger See, das mit Engelsgeduld Kinderscharen mit Eis und Pommes versorgte und unsere Königsberger Wirtin, die sich nicht durch Pfifferlinge bestechen ließ und uns doch aufnahm, haben uns aufgeheitert. Montag, der 8.August: Hotel Schlossgarten, Neustrelitz 9 Uhr
Wieder sind wir mit Glück dem dicksten Regen entkommen. Seit Samstag spazieren wir durch die liebliche, leicht gewellte Landschaft der Mecklenburger Seenplatte (ein See ist immer zu sehen) und sind damit in deutlich touristischeres Gebiet gelangt. Wälder wechseln ab mit Heide, Feldern, Wiesen; Kühe weiden in trauter Eintracht mit Störchen, Kraniche rufen und plötzlich galoppiert auch eine Herde Lamas (!) vor unseren Augen über eine Wiese. Wir treffen das erste Mal zwei Rucksacktouristinnen, die als Pilgerinnen unterwegs sind. Auf Nachfrage sind sie dann doch eher Wanderinnen, die die Pilgerstrucktur nutzen. (Liebe Protestanten Mecklenburgs, Sachsen-Anhalts und Brandenburgs: Warum fahrt ihr so auf das Pilgern ab, dass niemand mehr mit Rucksack durch die Gegend laufen kann, ohne gleich als Pilger eingeordnet zu werden? Und was würde Luther dazu sagen?) Die beiden Frauen (+ Hund) sind jedenfalls gut gestimmt und erzählen uns von den ersten Tagen ihrer Tour, die in Friedland begann. "Da ist kein Mensch, man ist ganz alleine. Hier ist es wenigstens ein bisschen touristisch und man bekommt mal einen Kaffee." Mittwoch, der 10.August: Zippelow, Ferienwohnung, 8 Uhr
Nach einer "Pilgertour"(!) zum Sterbeort Königin Luises in Hohen-Zieritz, sind wir in der wunderbaren kuppigen Endmoräne Mecklenburg-Strelitz' in einer dieser Schönheit entsprechenden Ferienwohnung gelandet. Begegnungen mit interessanten Menschen: Eine alte Dame, hochgewachsen, windzerzaust, mit Workingstöcken befragt uns eingehend nach unserem Woher und Wohin. Zur Zeit nach der wende sagt sie: "Der Übergang war grausam." Natürlich geht es um den Verlust von Arbeit. Unsere Gastgeberin sagt: "Es geht wieder aufwärts, mehr Kinder, mehr arbeitende Eltern. Aber die Arbeitslosigkeit ist noch bei 12-13%. Viele davon sind in der 2. Generation arbeitslos, die kennen nichts anderes und können nichts anderes mehr, weil sie es nicht gelernt haben. mit dieser Gruppe wird es schwierig." Eine junge Journalistin sagt: "Wir müssen noch 10 Jahre die Füße still halten, dann sind die 50jährigen, die jetzt so hängen, aus dem arbeitsprozess raus, dann wird noch einmal etwas ganz anders. Aber ob ich so lange warten kann? Ich möchte gern hierbleiben, meine Freunde möchten das auch, aber die Bedingungen sind sehr hart." Donnerstag, der 11.August: Altentreptow, Pension Central, 19.30 Uhr
M-V ist im Wahlkampf. In Neustrelitz und Neubrandenburg sahen wir kaum NPD-Wahlplakate, nur an den Rändern der Stadt und dort so hoch, dass sie kaum "gepflückt" werden konnten - oder wir sahen "gepflügte" auf dem Kopf liegen. Heute unterwegs in Woggersin NPD-Plakate (Wir bleiben hier. Wir packen an. Unsere Heimat, unser Aufrtrag. We daun wat. Sei kein Frosch, wähle deutsch!), daneben freche "Storch Heinar"-Plakate: "Storchenkraft statt NPD". In Altentreptow sind die NPD-Plakate übermalt und man sieht viele Plakate der Grünen. Freitag, der 12.August: Iven, bei Elfriede Levke, 18 Uhr
Von Altentreptow über abgelegene Dörfer durch Regen und Schlamm nach Iven, ins Dorf meiner Kindheit. Dort in allen Ecken herumgestöbert, vieles wiedererkannt und "Tante Elfriede" und "Tante Waltraud" getroffen. Die erste weise Frau meines Lebens, Ingelore Witte, 2 Tage älter als ich (aber mit sehr viel mehr Verstand gesegnet) lebt leider nicht mehr hier. Aber ich habe die Stelle auf Anhieb gefunden, an der sie mir sagte: "Ach lass man, Schacht vergeht, Arsch besteht." Dann trennten wir uns, gingen nach Hause und nahmen unsere (gerechte) Strafe für irgend ein Vergehen tapfer entgegen. Samstag, der 13.August: Anklam/Konsages, 16 Uhr
Angekommen! Was das bedeutet, müssen wir erst ganz langsam realisieren. Wir sind voll bis an die Haarwurzeln vom Erlebten. Anklam in der Sonne. Am Markt steht eine ganze Schar und begrüsst uns mit rotem (Flicken)-Teppich. Wir sind gerührt, erfreut, erleichtert.
Warum es sich so sehr lohnt, erfahrt Ihr in unserem Buch und/ oder dem Bildervortrag. Dafür brauchen wir Zeit - sicher bis Ende des Jahres. Kommentare und Nachfragen jederzeit gern an uns. Sonntag, der 14.August, Berlin, 16 Uhr
Ein allerletzter Eintrag, angekommen zu Hause in Berlin: In Neukölln begrüßen uns an jeder zweiten Laterne DKP-Wahlplakate. Auch darüber wundern wir uns. Der Schein trügt oft genug. Jugendliche Anklamer versicherten uns gestern Abend, dass die NPD da auch kein Bein mehr auf die Erde kriegt und die Plakatschwemme ein letztes Aufbäumen ist. "Überall ist es besser geworden, auf den Straßen, in den Schulen." |